Eisschilde: Kippunkte für den Meeresspiegel

Wie beeinflusst das Schmelzen der Eisschilde den Meeresspiegelanstieg und warum ist das wichtig?

Die Landeismassen der Antarktis und Grönlands binden den größten Teil des Süßwassers der Erde. Würde der mehrere 1000 Meter dicke antarktische Eisschild als Folge der globalen Erwärmung komplett schmelzen, dann stiege der globale Meeresspiegel um etwa 58 Meter. Ein Verlust des Grönland-Eisschilds würde zusätzliche 7,40 Meter beitragen.
Dem Meeresspiegelanstieg sind schon heute viele Küstenbewohner ausgesetzt, vor allem durch verstärkte Extremereignisse wie Sturmfluten. Heute leben global etwa 40% der Bevölkerung in Küstennähe und im Jahr 2050 werden etwa eine Milliarde Menschen nahe der Küste wohnen. Es wird erwartet, dass in der Zukunft extreme Wasserstände, die historisch be­trachtet Jahrhundertereignisse waren, an vielen Küsten­orten mindestens einmal pro Jahr eintreten. Dies hat Folgen für die Lebensumstände an den Küsten und für Maßnahmen, um Menschen und deren Lebensgrundlagen zu schützen.

Der globale Meeresspiegel ist durch den menschengemachten Klimawandel um 23 Zentimeter seit Anfang des 20. Jahrhunderts angestiegen. Dies geschieht durch zwei Prozesse – die Ausdehnung des immer wärmeren Ozeanwassers und das verstärkte Abschmelzen der Eisschilde. Seit 2006 steigt der globale Meeresspiegel rund zweieinhalbmal schneller als im Zeitraum 1900–1990. Hauptursache ist das verstärkte Abschmelzen der grönländischen und antarktischen Eisschilde sowie der Gletscher. Besonders stark betroffen ist der westantarktische Eisschild, der durch das unerwartet schnelle Schmelzen weniger stabil geworden ist. In den kommenden Jahrhunderten könnte durch die zunehmende Erwärmung der Kipppunkt von Teilen des antarktischen Eisschilds erreicht werden – das heißt, das Abschmelzen wäre nicht mehr aufzuhalten – und der Meeresspiegel würde global um mehrere Meter ansteigen.

Durch welche Prozesse schmelzen die Eisschilde?

Antarktischer Eisschild:

Eis fließt aufgrund der Schwerkraft, ähnlich wie Sirup, allerdings etwas langsamer. Ein Eisschild besteht aus Schnee, der über lange Zeit hinweg gefallen ist. Jede Schneeschicht verwandelt sich langsam in Eis, weil das Gewicht des Schnees, der darauf fällt, zu groß ist. Eisströme von den antarktischen Eisschilden fließen langsam Richtung Küste und bilden dort Schelfeise, die auf dem Ozeanwasser schwimmende Verlängerung des Eisschildes (siehe Abbildung rechts). Die Aufsetzlinie ist der Punkt, an dem die Eisdecke nicht mehr dick genug ist, um auf dem Boden aufzuliegen, und beginnt zu schwimmen. Trifft warmes Ozeanwasser auf die Unterseite der Schelfeise, wird dort Eis geschmolzen (basales Schmelzen). Verstärkt sich dieses basale Schmelzen, dünnen sich Schelfeise aus. Ein Eisberg entsteht, wenn ein Teil des Schelfeises abbricht, dies wird Eisbergkalbung genannt.

ice shelf melting induced by ocean current
Bild: Martin Künsting, Alfred-Wegener-Institut

In extremen Fällen, wie bisher an der Antarktischen Halbinsel mehrfach eingetreten, können Schelfeise instabil werden. Verringert sich die Mächtigkeit der Schelfeise oder droht gar der Verlust, dann beschleunigen sich die Eisströme, der Masseverlust des Eisschilds wird erhöht und der Meeresspiegel steigt schneller. Entscheidend für die Intensität des Schelfeisschmelzens und damit für den Meeresspiegelanstieg sind Prozesse, die warme Wassermassen aus dem tiefen Ozean über den antarktischen Kontinentalabhang auf die Schelfregionen bringen. Das warme Wasser strömt dann unter die mehrere Hundert Meter dicken Schelfeise und liefert die Wärme für das basale Schmelzen.
Dazu ist ein komplexes Zusammenwirken von Prozessen im Ozean, auf dem Kontinentalschelf und in der Atmosphäre erforderlich. Einerseits treiben Winde das warme Wasser auf die Schelfe und ein Rückzug des Meereises begünstigt das basale Schmelzen der Schelfeise. Andererseits können durch Winde auch Barrieren salzreichen, kalten Wassers auf den Kontinentalschelfen aufgebaut werden, die das warme Wasser verdrängen können. Kalte ablandige Winde können das Meereis von der Küste wegtreiben und dadurch eisfreie Wasserflächen, sogenannte Polynjas, erzeugen. Das freigewordene Wasser in diesen Polynjas ist nun der viel kälteren Atmosphäre ausgesetzt und kühlt sich stark ab. Dadurch wird neues Meereis gebildet, welches nur noch recht wenig Salz erhält. Das in den Polynjas zurückbleibende Wasser ist sehr kalt, salzreich und dadurch schwer, so dass es in große Tiefen absinkt und die Ozeanströmung antreibt. Der Einfluss von warmem Wasser unter das Schelfeis wird dadurch blockiert. Dies trägt unter heutigen Bedingungen insbesondere zur Stabilisierung des Filchner-Ronne-Schelfeises bei.

Antarktischer Eisschild vom Weddelmeer aus gesehen
Die Fließgeschwindigkeiten des Antarktischen Eisschildes werden durch die Farbskala von Hellblau (langsam) bis Rot (schnell) veranschaulicht. Die Schelfeise fließen am schnellsten. Bild: Martin Künsting, Alfred-Wegener-Institut, modifiziert von L. Sanguineti, Universität Bremen
Grönländischer Eisschild:

Anders als die Antarktis besitzt der Grönlandeisschild keine großflächigen Schelfeise. Es gibt aber schwimmende Gletscherzungen in den Fjorden, deren Stabilität ebenfalls von basalem Schmelzen bedroht ist. Heute existieren nur noch drei schwimmende Gletscherzungen im Norden Grönlands. Im Süden sind sie bereits abgeschmolzen, mit entsprechender Beschleunigung der Gletscher-Fließgeschwindigkeiten Richtung Küste. Inzwischen ist auch der Norden des Grönlandeisschilds von deutlichem Masseverlust betroffen.
Der grönländische Eisschild reagiert viel empfindlicher auf Änderungen der Lufttemperatur als der antarktische Eisschild. Die Lufttemperatur in Grönland liegt im Sommer über dem Gefrierpunkt, was bedeutet, dass auch der Schnee und das Eis an der Oberfläche schmelzen. Das Schmelzwasser an der Oberfläche des Eisschildes kann durch das Eis bis zur Basis des Eisschildes wandern, wo es die Fließgeschwindigkeit des Eises verändern kann. Wenn das Eis schneller fließt, fließt mehr Eis in die Schmelzzone und trägt dadurch zum Anstieg des Meeresspiegels bei.

Woran arbeitet die Forschung?

Einem Sonderbericht des Weltklimarats zufolge könnte der westliche Teil des antarktischen Eisschilds bereits einen Kipppunkt erreicht haben, sodass die Desintegration nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Dies würde bedeuten, dass der Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten noch schneller steigen wird als bisher vermutet. Diese Prognosen sind jedoch mit einer großen Unsicherheit be­haftet. Das liegt daran, dass es nur wenige Beobachtungen gibt und die Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Ozean, Meereis, Eisschilden und der festen Erde noch nicht ausreichend verstanden sind. Die deutsche Polarforschung arbeitet an folgenden Fragen:

Wie hoch sind die Beiträge der abschmelzenden Eisschilde zum globalen und regionalen Meeresspiegelanstieg – heute und in der Zukunft?

Um diese Frage zu beantworten, müssen die Mechanismen, die zum Eisverlust und zum Anstieg des Meeresspiegels führen, besser erforscht werden. Dazu müssen Grundlagendaten kontinuierlich erhoben werden, um Änderungen der Eismassen erkennen zu können. Hierunter fallen zum Beispiel die Beobachtung der Eisströme, der Höhen- und Massenänderungen von Inlandeis und Schelfeis und die Erfassung des Oberflächen- und des basalen Schmelzens. Basale Schmelzraten an den Schelfeisen wurden bisher nur an wenigen Stellen gemessen. Die Lage der Aufsetzlinie (Übergang von gegründetem zu aufschwimmen­dem Eis) ist ein wesentliches Anzeichen für Änderungen.
Ebenfalls wichtig ist eine verbesserte Erfassung des Einflusses von Erdwärme für das Abschmelzen. Dazu muss auch die Beschaffenheit des Felsbodens unter den eisbedeckten Gebieten und der Meeresboden in den Fjorden untersucht werden. Insbesondere in der Westantarktis, wo die Erdkruste dünner ist als der massive Kontinentalsockel der Ostantarktis, könnte sich Erdwärme auf die Eisströme auswirken.
Alle diese Informationen werden benötigt, um die Wechselwirkungen zwischen Ozean und Eis sowie die Strömungsbedingungen besser zu verstehen und in Modellen abzubilden, damit realistische Aussagen über die zukünftige Entwicklung der Eisschilde und des Meeresspiegels gestellt werden können.

Wie groß ist die Gefahr, dass Teile des antarktischen Eisschilds und der Eisschild von Grönland instabil werden oder extremen Masseverlust erfahren? Sind solche Ereignisse in der Erdgeschichte schon eingetreten?

Für Untersuchungen, ob die Eisschilde teilweise oder ganz am Kipppunkt sind, sind geologische Warmzeiten, in denen die Temperaturen höher als heute waren, von erheblicher Bedeutung. Diese Perioden reichen von der Eem-Warmzeit (vor circa 125.000 Jahren) bis zu den Warmzeiten des mittleren Pliozäns (vor circa 3–3,5 Millionen Jahren) und mittleren Miozäns (vor circa 14–16 Millionen Jahren). Aus diesen Epochen gibt es erste Hinweise, die einen teilweisen oder vollständigen Kollaps der Eisschilde vermuten lassen.
Ein Kollaps des westantarktischen Eisschilds könnte während der Eem-Warmzeit stattgefunden haben, einer Periode, in der die polare Oberflächentemperatur etwa zwei bis drei Grad Celsius höher war als heute. Diese Warmzeit ist damit vergleichbar mit den Temperaturen, die im Jahr 2100 Realität sein könnten. Der Meeresspiegel würde dabei um drei bis fünf Meter ansteigen.
Um die Erkenntnisse zu verbessern, müssen Sediment- und Eisbohrkerne aus Schlüsselregionen untersucht werden. Außerdem wird eine auf den Beobachtungen basierende Modellierung benötigt. Das Verhalten der Eisschilde in anderen Warmzeiten kann dann genutzt werden, um die kritischen Temperaturgrenzen zu identifizieren, an denen Eismassen unumkehrbar verloren gehen.

Wie beeinflusst das Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds die Ozeanströmungen und damit regionale Änderungen des Meeresspiegels?

Das Abschmelzen des Grönlandeises liefert mehr Süßwasser in den nördlichen Nordatlantik. Wenn dieses Süßwasser in die Schlüsselregionen der klimarelevanten atlantikweiten Ozeanströmung transportiert wird und dort den Salzgehalt des Wassers verdünnt, dann könnte dies zu einer weiteren Verlangsamung der Atlantikströmung führen.
Das Strömungssystem im Atlantik wird dadurch angetrieben, dass das Oberflächenwasser in Schlüsselregionen durch Unterschiede in Salzgehalt und Temperatur schwerer wird als das darunter liegende Wasser und als tiefer Strom absinkt. Erwärmung des Oberflächenwassers als Folge des Klimawandels und der Zufluss von Schmelzwasser des Grönlandeises schwächen die Bildung des Tiefenwassers ab.
Die Atlantikströmung beeinflusst das unter anderem das milde Klima in West- und Nordeuropa, sowie Regenfälle über Afrika und Südamerika. Eine abgeschwächte Atlantikströmung lässt den regionalen Meeresspiegel in Europa noch mehr ansteigen, als allein durch Abschmelzen und Erwärmung und Ausdehnung des Wassers zu erwarten ist. Um zu klären, welche Rolle das Süßwasser aus Grönland für die Atlantikströmung spielen wird, müssen alle relevanten Prozesse gut in Klimamodellen dargestellt werden. Um Modelle verbessern zu können, müssen die Strömung und die Tiefenwasserbildung an mehreren Schlüsselstellen über lange Zeit beobachtet werden.

Wie können die Wechselwirkungen von Eisschilden mit Ozean und Atmosphäre besser verstanden, quantifiziert und modelliert werden, um die Prognosen zum Meeresspiegelanstieg für die nächsten 100 bis 300 Jahre zu verbessern?

Modellrechnungen zufolge schrumpfen die Eismassen in zwei Schritten. Der erste Schritt führt zu einem Rückzug des Schelfeises. Gehen Schelfeismassen in der Antarktis verloren, beschleunigen sich die Eismassen des dahinterliegenden Inlandeises, der Eistransport in den Ozeanen nimmt zu und der Meeresspiegel steigt. Das Gleiche gilt für die Gletscherzungen Grönlands und die Gletscherfließgeschwindigkeiten Richtung Küste. Da beide Eisschilde Kipppunkte für den Meeresspiegelanstieg darstellen, sind realistische Prognosen von Klimamodellen extrem relevant.
Um bessere Prognosen zum Schmelzen der Eisschilde und zum Meeresspiegelanstieg stellen zu können, müssen die komplexen Wechselwirkungen zwischen Eisschilden, Ozean und Atmosphäre in Klimamodelle eingearbeitet werden. Die Modelle müssen zum Beispiel das basale Schmelzen und das Oberflächenschmelzen realistisch simulieren können. Das Entstehen von Schmelzwasserseen und nasser Firnschnee auf der Eisoberfläche ändern das Rückstrahlvermögen von einfallender Sonnenstrahlung, dies muss in den Modellen berücksichtigt werden. Berücksichtigt werden müssen auch veränderte Niederschläge über den Eismassen und der starke Anstieg der Lufttemperaturen in der Arktis durch die Polare Verstärkung. Viele dieser Abläufe sind auch für die arktischen Gletscher und Eiskappen außerhalb Grönlands bedeutsam, und diese polaren Eismassen müssen ebenfalls in die Simulationen einbezogen werden.
Zur Simulation dieser komplexen Abläufe müssen hochauflösende Prozessstudien in globale Klimamodelle der nächsten Generation eingebettet werden. Neue Herausforderungen bestehen aber nicht nur in der Modellierung, sondern auch darin, durch Messungen eine hochwertige Datenbasis zu schaffen, mit der Modellergebnisse validiert werden können.

researchers at the edge of the antarctic ice sheet
Bewohner der Neumayer Station an der Antarktischen Eiskante. Foto: Thomas Steuer, Alfred-Wegener-Institut